SEVAK ARAMAZD, ARMEN, Roman, 2005

Erster Teil, Kapitel 1

 

Aus dem Armenischen ins Deutsche übersetzt

von 

LEVON SARGSYAN
 

 


Zum Geleit

 

Von Zeit zu Zeit muss man sein Haus in Ordnung bringen. Die Hand, die ein Chaos schafft, indem sie alles durcheinandermischt und –wirft, ist dieselbe Hand, die jedes Ding putzt und an seinen Platz zurückbringt. So habe auch ich eines Tages beschlossen, mit dem Durcheinander meines Lebens aufzuräumen; ich riss die Fenster meines Gedächtnisses weit auf, um die muffige Stube meiner Erlebnisse zu lüften, dann begann ich meine zerstreuten Empfindungen Stück für Stück aufzulesen und sie in dem Schrank meiner Gedanken schön aufzustellen; ich ordnete sorgfältig die Vorhänge der Liebe und der Sehnsucht, warf die Lumpen des Hasses und des Grolls weg und, nachdem ich die verstaubte Decke meiner Träume sorgsam abgewischt hatte, stellte ich auf den Tisch der Gegenwart eine kleine Vase der Vergangenheit, aus der die flammenden Blumen der Zukunft in alle Seiten quollen. Danach ließ ich mich erschöpft nieder, um etwas auszuruhen und fühlte plötzlich den unfassbaren Duft der Ewigkeit sich in meiner Seele entfalten und ein Taumel ergriff mich. Als ich zu mir kam, sah ich im Spiegel der Leiden, der an der Wand der Wirklichkeit hing, mein Gesicht und ich lächelte: Auf dem Tisch vor mir lag dieses Buch, das ganz Leben ist und ein bisschen Literatur.

Autor

 

 

ERSTER TEIL

 

Kapitel 1

I

Als er eine sichere Lichtung erreicht hatte, blieb der junge Mann, der Armen hieß, atemlos stehen und lauschte, die Gegend achtsam im Auge. Kein Ton war zu vernehmen. Die schlanken Bäume tranken selbstvergessen die Stille des Abendrots, als versuchten sie, die kostbaren Tropfen des vom Himmel strömenden Lichts aufzufangen; diese entgingen ihnen indes, ergossen sich hinunter und verloren sich im Gras. Der Wald schien zu erschauern. „Wie ich ...“, dachte Armen und er verspürte einen starken Hunger. Er wollte die Reisetasche unterstellen, ging aber instinktiv vor und zog im Gehen mit zitternder Hand eine kleine durchsichtige Tüte aus der Reisetasche, die Tüte war mit walnussgroßen kugelförmigen Kuchen gefüllt. Er hatte sie von einer alten Frau gekauft, die am Rand der Straße saß, auf der er ins Dorf gekommen war. Ihm war die Ähnlichkeit zwischen der kleinen und rundlichen Gestalt der Alten und den von ihr gebackenen Kuchen aufgefallen und das hatte Armen neugierig gemacht. Jetzt, wo er sich an den argwöhnisch prüfenden Blick der Alten erinnerte, bereute er seine unangebrachte Großzügigkeit: Wenn er nicht bei ihr verweilt wäre, wäre er den drei Männern nicht begegnet, die ihn umbringen wollten.

Folgendes war geschehen: In diesem kleinen Dorf, das sich an einer Ecke des bewaldeten Tals eingenistet hatte, war unter unbekannten Umständen der zwölfjährige Sohn des Gemeindevorstehers getötet worden, dessen Leichnam man in der Nähe der schäbigen und verlassenen Bleibe eines Fremden fand und sofort folgerte, dass gerade dieser Fremde das Kind getötet und sich aus dem Staub gemacht hatte. Davon hatte Armen, der auf der Suche nach einer Arbeit zufällig in dieses Dorf gekommen war, ein kleiner Junge erzählt, den er gebeten hatte, ihm das Haus des Gemeindevorstehers zu zeigen. Der Junge hatte nur verwirrt vom Vorfall erzählt und war rasch ängstlich davongelaufen. Armen, der verblüfft nach ihm blickte, hatte auf einmal die lauernde Leere dieses im Wald verlorenen kleinen Dorfes gespürt und er war im Begriff, das Dorf zu verlassen, als drei schwarzbärtige Gestalten hinter den Bäumen plötzlich hervorgetreten und unheilkündend auf ihn zugegangen waren. Was darauf gefolgt war, war ein heißer chaotischer Albtraum aus Stimmen, Flüchen, Geschrei, Gerangel und von links und rechts unregelmäßig hagelnden Schlägen gewesen, aus dem nur zusammenhanglose und unverständliche Fetzen in seinem Gedächtnis haftengeblieben waren. Er erinnerte sich nur an das Gefühl einer tiefen, unmöglichen Scham, das während der ganzen Zeit keinen Augenblick von ihm gewichen war, und an die Angst, auf den Boden zu fallen und umzukommen, sowie an die grenzenlose Furcht, die ihn gepackt hatte, als inmitten des Gerangels plötzlich eine blanke Messerschneide aufgeblitzt war; da hatte er sich mit Wut dem Messer entgegengeworfen und es geschafft, die Hand des Dritten, die das Messer hielt, zu packen; er hatte dessen Arm verdreht und dadurch das Messer aus dessen Griff zu entreißen vermocht und es mit voller Wucht in das Dickicht geschleudert;  der Dritte hatte inzwischen ihn losgelassen und war dem Messer nachgelaufen, während die beiden anderen einen Augenblick lang erstaunt mit den Schlägen aufgehört hatten, so dass es Armen gelungen war, die Flucht zu ergreifen; er hatte seine Reisetasche aufgehoben und sich schleunigst davongemacht...

Armen setzte einen Kuchen an den Mund, aber da glaubte er, von hinten Schritte zu hören. Alarmiert blickte er zurück. Der Pfad blieb still, in der Lichtung hörte er nur hier und da die emsigen Abendkäfer brummen. Ihm wurde bewusst, dass das, was ihm passiert war, kein Missverständnis, sondern eine Art unvermeidliche Vergeltung war: Dieser Vorfall hatte in ihm ein unbestimmtes und schweres Schuldgefühl erweckt, als hätte er selbst den Tod jenes Kindes verschuldet. Er dachte daran, wie alle Beteuerungen seiner Unschuld auf Unverständnis gestoßen waren, jene Drei hatten nur geschrien, geflucht und gedroht, und es war ihm nicht entgangen, dass sie erst dann auf ihn losgeschlagen hatten, als seine eigenen Erklärungen unerwartet aufhörten, auch für ihn selbst überzeugend zu sein, und plötzlich verdächtig klangen, so dass er bedrückt den Kopf hatte hängen lassen, da ihm das Gefühl gekommen war, dass er wirklich das Kind getötet hatte...

„Für sie war klar, dass der Fremde das Kind umgebracht hat“, flüsterte er vor sich hin, dabei stellte er erstaunt fest, dass dies merkwürdigerweise stimmte, unabhängig davon, ob dem in Wirklichkeit so war. „Hm, das ist also, was ‚Fremde’ heißt! Dass man unwiderruflich verurteilt ist, ob man schuldig ist oder nicht ...“ stöhnte er, tief aufatmend.

Er setzte sich verzweifelt nieder, nicht wissend, was er tun sollte. Zum ersten Mal wurde ihm die ganze Ausweglosigkeit seiner Lage bewusst. Er schaute sich unwillkürlich um: Der Wald stand gleichgültig da und wartete still, gleichsam in sich versunken ... Worauf? Wartete wahrscheinlich darauf, was schon hundert, tausend Mal, unzählige Male geschehen war. Bewusst oder unbewusst, es war das Leben des Waldes, und mit ihm hatte es nichts zu tun. Auch das Gras, auf dem er jetzt saß, hatte nichts mit ihm zu tun. Nicht mal die winzige Ameise, die sich in den Härchen seines Unterarms verirrt hatte und hin und her laufend nach einem Ausweg suchte, hatte etwas mit ihm zu tun. Und seine Augen  verloren plötzlich ihren Glanz...                             

Er war in dem Land Armenien geboren, in einem kleinen Dorf, das Sar hieß, inmitten hoher Berge verborgen lag und aus verstreuten Häusern bestand, die sich von Steinen und Bergterrassen kaum unterschieden. Das Haus, in dem er als das einzige Kind seiner Eltern zur Welt gekommen und aufgewachsen war, war zusammengebrochen, als an einem dunklen und matschigen Herbstabend das Erdbeben hereingebrochen war. Jetzt, wo er wieder an die Tränen in den Augen seiner Mutter und die grenzenlose Verzweiflung im Gesicht seines Vaters denken musste ­­- sie standen still und verwirrt vor den Trümmern des Hauses und rührten sich nicht – brach ihm das das Herz. Es schien ihm, er und seine Ratlosigkeit seien die einzigen Ursachen ihres Kummers. Und ihn befiel erneut das schmerzliche Gefühl eines Hingefallenen, das ihn seit dem Augenblick, als er in dieses ferne und fremde Land geraten war, nicht mehr verließ. Ihm schien, als sei er gleichsam aus der unbegrenzten Höhe des Himmels auf die Erde herabgestürzt, die eine riesige unebene Scheibe war, ein namenloser Raum, der gleichzeitig in allen Richtungen seinen Füßen zu entrinnen schien. Er, der immer im Himmel gelebt hatte, in den Wolken, über den Wolken, in einer Welt, die der Sonne zum Umarmen nah und hoch genug war, um das Geflüster der Sterne hören zu können, in einer Welt, die sich an der Mähne der vorbeirasenden Winde festhielt und mit dem Schauern der Stille der abgründigen Schluchten fest verschmolzen war, er war, hier angekommen, von einem scharfen Gefühl durchdrungen gewesen, sich über alle vier Seiten zu zerstreuen und in den eintönigen Nebeln der unbestimmten Horizonte aufzulösen. Und geweint hatte der junge Mann mit dem Namen Armen, der auf dem Lehm-boden der Erde im Staub saß, da er eingesehen hatte, dass das sein Schicksal war, in das er sich wohl oder übel fügen musste. So hatte er das Mittel gefunden, ohne zu murren, in dem fremden Land auszuharren, bis sich der Vorfall in diesem verlorenen Dorf ereignete und er das wahre Gesicht der Fremde unerwartet erkannte und so entsetzt war, als sei er zum ersten Mal dem Tod begegnet ...      

Er versuchte, den Kuchen zu kosten, hielt aber plötzlich inne: Der Kuchen, der so weich aussah, war überaus trocken und hart wie eine Nuss. Die Zähne taten so weh, dass er aufheulte. Er krümmte sich im Sitzen zusammen und erst da wurde er dessen gewahr, dass sein ganzer Körper erbarmungslos verprügelt worden war und von Kopf bis Fuß wehtat. Besonders weh taten die Nasenflügel. Er betastete vorsichtig die Nase, sie war geschwollen und stand schief im Gesicht. Mit dem Handrücken wischte er die Lippen und seine Hand verschmierte sich mit Blut. Auch der Kuchen war mit Blut verschmiert. Im Mund verspürte er den klebrigen Geschmack des Blutes und erst da schien er vollends zu begreifen, was ihm geschehen war: Als hätte ein Unbekannter versucht, ihn zu erniedrigen...

„Ihr schafft es nicht!“ brummte er dumpf vor sich hin, er spuckte Blut aus und presste die Lippen zusammen. Er spürte eine gewaltige Wut in sich aufsteigen, und eine ungewöhnliche Kraft schien ihn zu erfüllen. Das war die Kraft des Lebens. Die Kraft seines Lebens. Seine Kraft. Und niemand konnte ihm diese Kraft entreißen...

Er zögerte ein wenig, dann sprang er leicht auf und setzte seinen Weg sicheren Schrittes fort.

 


II

 

Als er aus dem Wald hinausging und an dem düsteren und trüben Fluss vorbeiging, der den Wald von der Steppe trennte, blieb er auf der Brücke einen Augenblick lang stehen und überschaute die Horizonte. In der weiten Ferne schlug die abstürzende Kugel der Sonne klanglos donnernd gleichsam gegen den Horizont und ihre feurigen Funken stoben in alle Himmelsrichtungen und füllten die grenzenlose Steppe mit dem teilnahmslosen Staub der abendlichen Stille. Die Welt war ungeheuer groß, der Wege gab es so viele wie der Anlässe zur Verzweiflung und sein Herz krampfte sich von einer nicht näher zu bestimmenden Unruhe zusammen. Wo war er nur hingeraten? Wie, warum? Im nächsten Augenblick empfand er zum ersten Mal greifbar das Rundsein der in Schatten vergrabenen Erde, und seine Seele war plötzlich von einer unbekannten Wonne erfüllt: Er war dafür offen, zu leben und zu sterben, zu siegen und zu unterliegen...

Bei der ersten Kreuzung blieb er wieder zögernd stehen; das dunkelnde Gesicht der Erde war mit Wegen wie mit unzähligen Runzeln überzogen; in der Ferne, die sich vor ihm ausbreitete, waren Dörfer, Siedlungen und Städte kaum zu unterscheiden; sie glichen in dieser unendlichen Steppe dichten Sträuchern, die zufällig hier und da gewachsen waren, und ihn packte dasselbe Gefühl wie beim Anblick der Alten, die unbeweglich am Straßenrand saß, als er in jenes Walddorf gekommen war.

„Wie das runzlige Gesicht der Alten“, dachte er über die Erde.

Links, auf dem schmalen und holprigen Weg, bewegte sich ein undeutlicher länglicher Fleck. Er ging spontan auf diesen Weg zu; bei dem Fleck handelte es sich vielleicht um einen Menschen, von dem man etwas erfahren könnte. Etwas später kam ihm jemand aus der Dämmerung entgegen, der auf einem Bein hinkte. An dem leicht schaukelnden Gang erkannte Armen, dass es ein Hund war. Als er den Mann sah, blieb der Hund stehen, schnüffelte, kam dann näher. Es war wohl ein streunender Hund, geschlagen und hungrig. „Wie ich...“, dachte Armen, er blieb stehen, holte einen Kuchen aus der Reisetasche und hielt ihn dem Hund entgegen. Zu seinem Erstaunen machte der Hund auf dem halben Weg zu ihm einen großen Bogen und ging gleichgültig seinen Weg weiter, er wollte wahrscheinlich in den Wald, um dort zu übernachten. Armen schaute ihm nach und im nächsten Moment lief es ihm kalt über den Rücken: Es war kein Hund, sondern ein Wolf, der, als er die Kreuzung erreichte, stehen blieb und mit großen glänzenden Augen Armen ansah. Eine Weile starrten Armen und der Wolf sich an. Der Wolf drehte dann den Kopf und entfernt sich langsam zum Gebüsch am Flussufer hin, und Armen ging seinen Weg weiter.

Die Sonne war schon weg, aber ihre rotorange Spur erhellte noch den fernen Horizont und davon schien es ringsum noch dunkler zu sein, als es vielleicht war. Armen hatte das Gefühl, er knete mit den Füßen das Dunkel. Die Stille des Weges verschluckte den Widerhall seiner Schritte, der, mit seinem Atem vermischt, ihm die Leichtigkeit einer steten Fortbewegung vermittelte. In seinen Nasenlöchern saß der herbe Geruch von Staub, der von seinen Füßen hochstieg, und das war gleichsam ein Zeichen dafür, dass er den Weg sicher beherrschte. Er brauchte nicht einmal unter sich zu schauen, um die Unebenheiten zu umgehen; für seine Fersen, die von Kindheit an an die steinigen Wege in den Bergen gewohnt waren, war das ein Leichtes. Armen sah sich um, sein Blick tastete über jeden Stein und Busch, denn er wusste, dass er da nicht allein war und dass die Steppe ihm unsichtbar, aber aufmerksam folgte. Und diese Empfindung eines gegenseitigen Respekts erwärmte ihm das Herz...

Etwas später spürte er im Rücken den lebendigen Atem eines riesigen Wesens und er drehte sich um und starrte in die Finsternis; ein Ton, der nach einem dumpfen Donner klang, erreichte sein Ohr, er schien aus dem Grund der Erde zu kommen, dann waren einzelne Schritte klar zu hören, die sich im Gleichmaß wiederholten. Unwillkürlich verhielt er den Atem, als sich aus der Finsternis vor ihm etwas aufpflanzte, was massig war und sich bewegte, und ein dumpfer und geduldiger Seufzer zu ihm drang, und sofort spürte er den vertrauten Geruch von Pferd und Gras. Es war ein Bauernwagen, vor den ein zottiges Pferd eingespannt war, auf dem Bock thronte ein baumstarker Bauer, wahrscheinlich kam er aus dem Wald. Bei Armen angelangt, hielt der Wagen. Armen grüßte erfreut den Wagenlenker und fragte ihn mit ausgesprochener Freundlichkeit, ob er ihn bis zum nächsten Ort mitnehmen könnte. Sein Gegenüber würdigte ihn keiner Antwort, er saß unbeweglich und stumm, und obwohl sich sein Kopf vor dem matten Licht des Horizonts abzeichnete, war sein Gesicht nicht zu erkennen. Armen warf sich in den Wagen und dieser fuhr los.

Er machte es sich auf dem weichen Gras bequem, lehnte den Rücken an die Gitterstäbe des Wagens und versuchte ein Gespräch anzufangen, indem er fragte: „Gibt’s denn hier viele Wölfe?“ Er lächelte: „Eben bin ich einem begegnet, ich hielt ihn zuerst für einen Hund, aber dann sah ich, dass es ein Wolf war...“.

Der Wagenlenker schwieg. Er war wohl ein schwerfälliger Bauer, der zur Unterhaltung nicht aufgelegt war.

Armen wurde etwas verlegen, dann fielen ihm die Kuchen ein, er holte drei Stück aus der Reisetasche, richtete sich im Sitzen auf und bot sie aus Dankbarkeit dem Wagenlenker an. Der Wagenlenker blieb teilnahmslos, weder nahm er das Angebot an, noch lehnte er es ab. Armen zog die Hand unschlüssig zurück und in demselben Augenblick schoss ihm durch den Kopf, dass der Wolf seinen Kuchen ebenso zurückgewiesen hatte, und ein befremdliches Gefühl überkam ihn. Armen schluckte und versuchte den Wagenlenker aufmerksamer zu betrachten, aber außer dessen ungepflegt zerzaustem Haar und einer dunklen Gesichtshälfte konnte er nichts erkennen. Bald vergaß er den Wagenlenker und begann den Himmel zu beobachten; nicht dass dieser immer heller wurde, aber er wurde irgendwie immer weiter, als wollte er es sich im Raum bequemer machen. Armen musste unwillkürlich an den Himmel seines Dorfes denken, der ungeheuer hoch war und wie ein sternenbesätes Meer wogte und wallte. Im Takt des Wagens sich wiegend und das Geklapper des Pferdes im Ohr war er eine Weile später schon eingeschlafen, seine Seele hatte er an lichte Erinnerungen und schnell wechselnde Träume hingegeben...

Er wachte wegen einer quälenden Unruhe auf. Im Schlaf hatte er das Gefühl, sein Gesicht sei mit einem unsichtbaren Eisennetz bedeckt, aus dem er sich nicht befreien konnte; je mehr er versuchte, dieses Netz von sich zu weisen, umso mehr verhedderte er sich darin. Armen lehnte sich an die Gitterstäbe zurück, und sofort schoss ihm ein schneidender Schmerz durch die Wirbelsäule, und er wachte auf.

Ringsum war tiefe Nacht. Wie eine von der dunklen Decke des Himmels herabhängende Lampe leuchtete der helle Vollmond dem Weg entgegen. Die Steppe war mit der unendlichen Stille vager Schatten erfüllt, in der das Geräusch des fahrenden Wagens aus unwirklichen Fernen zu kommen schien. Ein Wind blies ihm ins Gesicht, der gleichsam direkt vom Mond kam, dadurch entstand der Eindruck, der Wagen renne durch die Nacht. Der Wagenlenker saß reglos wie zuvor und seine Haltung hatte sich nicht um einen Deut verändert. Die unbestimmt dunkle Masse seines Körpers erschien im Mondlicht noch unheimlicher; das Mondlicht schien auf eine erstaunliche Weise an ihm vorbei zu fließen, zu sehen war nur sein riesiger Schatten, der auf dem Weg auf und ab ging. Auf einmal trat der Wagen in den Schatten, und eine ununterscheidbare Finsternis breitete sich aus. Armen bog mit Mühe den Hals und sah links einen großen Berg, der sich irgendwie unangebracht in der Mondleere steil erhob. Der Berg sah sonderbar aus, er hatte einen unnatürlich scharfen und zackigen Umriss, von dem ein matter silbriger Schein ausging.

„Was ist das für ein Berg?“ wandte sich Armen an den Wagenlenker. „Ein ganz ungewöhnlicher Berg...“

Der Wagenlenker gab auch diesmal keine Antwort. „Ist er etwa taubstumm?“ dachte Armen, und plötzlich überkam ihn eine Furcht, und sein Herz begann alarmiert zu schlagen. Er wollte sich aufrichten und den Wagenlenker schütteln, ohne selber zu wissen, warum, aber da bog der Wagen abrupt nach rechts und hielt einige Meter weiter. Armen schaute zum Wagenlenker hinüber, vorne war eine vollkommene Ungewissheit und eine abgrundtiefe Finsternis. Er wollte den Wagenlenker dennoch weiter fragen, aber er spürte, dass er nicht konnte. Er sprang vom Wagen hinunter und ging auf den Wagenlenker zu, um sich zu verabschieden, aber als er sich diesem näherte, fuhr der Wagen unerwartet los. Armen erstarrte auf der Stelle: einen Augenblick lang glaubte er wie in der Luft die großen glänzenden Augen des Wagenlenkers zu sehen...

Verblüfft schaute er eine Weile dem Wagen nach, der sich gleichsam im Dunkel auflöste und verschwand. Nicht einmal das Geräusch der Räder war zu hören. Armen tat einige Schritte und musste mit Staunen feststellen, dass es da gar keinen Weg zu geben schien, es war nur die holprige Steppe, hier und da mit großen Erdklumpen und hohen Dornbüschen bedeckt. Er zuckte mit den Schultern und ging zurück. Als er wieder auf der Straße stand, tauchte vor ihm wieder der Berg auf, der sich vor dem unklaren Hintergrund des Himmels gebieterisch abhob und unerreichbar schien, wie eine riesige natürliche Säule, auf der der unendliche Himmel ruhte. Der Berg zog ihn unwiderstehlich an. Er ging über die Straße, betrat das Meer der Disteln und der Sträucher und ging zum Berg. An der Grenzlinie des Lichts angelangt blieb er erschüttert stehen: Der Berg verströmte einen unsäglichen Gestank, der ihn schwindeln machte. Da wurde ihm klar, dass es die Müllhalde irgendeiner Stadt sein dürfte. Er zögerte, plötzlich machte ihm ein unerwarteter Gedanke Freude: Wäre es denn nicht möglich, diese gewaltige Müllmasse zu räumen? Warum nicht? Das könnte man schon. Wenn man’s will, kann er das tun. Allein. Ohne fremde Hilfe. Er wird Tag und Nacht arbeiten, und es wird schließlich der Tag kommen, an dem auch die letzten Reste beseitigt werden. Diesen Müllberg wird es nicht mehr geben, es wird auch diesen schwindelerregenden Gestank nicht mehr geben. Er wird so viel verdienen, dass er damit sein Vaterhaus wird renovieren können... Dieser Einfall begeisterte ihn so, dass er sich ganz den Träumen hingab, er sah bereits sein Vaterhaus vor sich: fest, renoviert, mit breiten und hellen Fenstern…

Mit geschäftigen Schritten ging er über den Graben, der den Fuß des Berges wie ein dunkler Gürtel säumte und stand nun dicht an der Müllhalde. Er betrachtete sie aufmerksam, die Müllhalde begann ihm langsam zu gefallen, selbst der Gestank schien nicht mehr so unerträglich. „Es ist nur ein Geruch“, dachte er, „nicht schlechter und nicht besser als andere Gerüche...“ Er klopfte mit der Hand auf einige kaputte Fässer, die Dreck und eine schimmernde Flüssigkeit enthielten, und in der Stille ertönte ihr dumpfer Widerhall, der wie nach dem Mond klang. „Er hätte sogar größer sein können...“ dachte er flüchtig, indem er den Müllberg vom Fuß bis zum Gipfel mit den Augen maß. In der Nähe, in einem dunklen Spalt hörte er Ratten hin und her laufen, dann huschte eine von ihnen mit einem aufgeregten Gepfeife heraus und ergriff erschrocken die Flucht, nun schoss eine andere Ratte aus dem Spalt heraus, die ziemlich groß war, und verfolgte wütend die erste. Diese erreichte mit einer verblüffenden Geschwindigkeit den Gipfel des Berges und verschwand unter einem Haufen, die zweite aber überlegte es sich anders, kehrte um, lief frech an Armens Füßen vorbei und verschwand in einem schwarzen runden Loch. Selbst diese Ratten waren ihm lieb...

Nachdem er sein weiteres Tun beschlossen hatte, wollte Armen zurückkehren, als er glaubte, ein menschliches Geschrei aus der Ferne zu vernehmen. Er ging an den verstreuten Metallhaufen vorbei, kam hinter dem Berg heraus und sah sich vor einer riesigen trichterförmigen Grube, die mit Finsternis gefüllt war. Er konnte nichts unterscheiden. Er wollte schon fortgehen, als wieder Stimmen sein Ohr erreichten, diesmal waren sie weniger undeutlich. Er ging längs des Randes der Grube und stieg auf einen schon zu Stein verhärteten Sandhügel. Vor ihm lag der breite hintere Hang des Müllbergs, der vom Mondlicht übergossen war. Armen war überrascht: In Mulden entlang des Hanges wimmelte es von zahlreichen Menschen, die verstreut emsig in dem Müll wühlten und ab und zu schrille Freudeschreie hervorstießen, wenn sie etwas Brauchbares fanden, eine Flasche, eine Decke, ein Buch, einen Eimer oder einen Spaten... Das waren elende und arme Leute, Trinker, Schwachsinnige, Obdachlose, Fixer, Arbeitslose und Landstreicher, die Armen auf seinen Wanderwegen zuweilen gesehen hatte. Männer waren sie und Frauen, junge und alte Menschen, Kranke und Behinderte in dreckigen Fetzen, ungepflegt, zerzaust, mit geschwollenen Gesichtern und trübem gequältem Blick... Armen runzelte unwillkürlich die Stirn und betrachtete reglos, was sich dort vor ihm abspielte. Ihm fielen zwei Leute auf, eine betagte Frau und ein Mann im mittleren Alter, die gleichzeitig etwas wie eine Decke gefunden hatten und es mit Schreien einander zu entreißen versuchten. Die Frau versuchte wohl mit heiserem Gekreische zu beweisen, dass sie zuerst das Tuch gefunden hatte, der Mann behauptete das Gegenteil und beschimpfte die Frau. Schließlich hinkte ein wuchtiger Mann auf sie zu, er hatte einen großen Kopf und einen starken Körper, in der Hand hielt er ein Bündel leerer Flaschen. Er sagte etwas zu den Streitenden und pflanzte sich majestätisch vor ihnen auf. Seine Augen funkelten. Teilnahmslos wartend sah er eine Weile hin und her und dann streckte er unerwartet seine Hand aus, riss das Tuch aus den Händen der Streitenden und rannte mit einer erstaunlichen Geschwindigkeit den Hang hinunter. Der Mann stürzte ihm nach, aber er glitt auf dem schlüpfrigen Müll aus, fiel auf die Seite und rollte in eine große Grube hinein. Die Frau erhob ein Geheul und rannte dem Mann zu Hilfe. Sie setzte sich auf den  Müll, nahm den Kopf des Mannes in den Schoß und begann ihn zu streicheln und zu trösten. Der Mann sprang plötzlich auf und begann mit den Händen fieberhaft zu wühlen, wo er hinuntergerollt war. Kurz danach zog er unter dem Müll eine ärmellose Jacke hervor, er jauchzte und stieß einen sonderbaren Schrei aus. Die Frau schaute eine Zeitlang mit einem traurigen Lächeln und Neid auf die Jacke, dann legte sie den Kopf zwischen die Knie und kauerte sich zusammen. Der Mann dachte nach, dann warf er die Jacke der Frau um die Schultern, stieg selbst auf den Gipfel, hob dort ein breites und langes Stück Holz auf und begann damit mit neuer Energie im Müll zu wühlen...

Armen senkte langsam den Kopf und starrte unter seinen Füßen auf den Boden. So fühlte er sich geborgener: Stimmen, Schreie, Gespräche, Weinen und Lachen der Leute schienen nun weiter zu sein. Schon sein Traum vom Räumen der Müllhalde nahm diesen Menschen die letzte Hoffnung...

Er stieg vom Sandhügel hinunter und trat ins Gebüsch. Er blieb am Wegrand stehen, klopfte sorgfältig die Dornen und den Staub von seinen Kleidern und schaute sich kurz um, ehe er weiter ging: Der Müllberg stand unerschütterlich zwischen der Erde und dem Himmel, regungslos und ewig, nichts schien seine gelassene und würdevolle Ruhe stören zu können...

Armen drehte sich um, er betastete vorsichtig die Geheimtasche am Gurt: das bisschen Geld, das er für die Reinigung des Hofbrunnens eines Bauern in einem Dorf bekommen hatte, war da. Er lächelte und warf sich die Reisetasche über die Schulter.

 

© Levon Sargsyan

© Sevak Aramazd